Grimsel – hinter den Kulissen des Megadamms

Der Winter war dunkel genug – Zeit für einen Ausflug in den Schnee, zum Jahrhundertprojekt Neubau Staumauer Spitallamm.

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1.900 Meter über dem Meer, mitten in den Berner Hochalpen, zieht sich eine gebogene graue Mauer durch die pittoreske Schneelandschaft. 94 Millionen Kubikmeter Stauvolumen befinden sich hinter der über hundert Meter hohen Staumauer Spitallamm. Auf der anderen Seite entsteht – ausgerechnet eine weitere Mauer.

Kai Lehner ist mit dem Ersatz der alten Staumauer beauftragt. Wir haben mit dem Bauleiter der ARGE Grimsel über das Megaprojekt gesprochen.

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Während sich in Wien die Menschen über jede einzelne Schneeflocke freuen, die vom Himmel fällt, gibt es im Berner Oberland Schnee, soweit das Auge reicht. Statt wenigen Graden über Null herrschen Minusgrade. Hier befindet sich, auf über 1.900 Metern Höhe, der Grimselsee, aufgestaut durch zwei gigantische Staumauern: Seeuferegg und Spitallamm. Beide Staumauern wurden in den 1930er Jahren erbaut. Während die Seeufereggsperre, eine Gewichtsmauer, zwar 300 Meter lang, dafür nur 42 Meter hoch ist, ist Spitallamm 114 Meter hoch und war damit zur Zeit des Baus eine der höchsten Talsperren überhaupt.

Mittlerweile ist das Bauwerk in die Jahre gekommen. Zwei Risse in der einfach gebogenen Mauer machen eigentlich eine Sanierung notwendig – allerdings an der mit Wasser gefüllten Innenseite des Damms. Statt also das bestehende Bauwerk zu reparieren, soll eine neue Staumauer entstehen, vor der alten.

Gezwungenermaßen, denn die Schneemassen machen eine Baupause bis April notwendig. Gut für uns, denn dadurch hat Bauleiter Kai Lehner Zeit, mit uns ein bisschen über dieses gigantische Projekt zu plaudern.

Eine gigantische Baustelle – auf Winterpause

Tatsächlich kann hier nur sechs Monate im Jahr gearbeitet werden: Die Saison beginnt im Hochgebirge im April mit Schneeräumarbeiten, „von Mai bis Oktober betonieren wir, und dann brauchen wir noch 2 Wochen, um alles wieder winterfest zu machen.“

Seit 2019 wird daran gearbeitet, vor der bestehenden Staumauer eine zweite Staumauer zu errichten.  

Kai Lehner ist seit einem Jahr dabei. Spezialist für Staudämme ist der 29-jährige eigentlich nicht. Bevor er zu dem Projekt gekommen ist, hat er am Neubau eines Autobahntunnels gearbeitet. “Spezialisten für Dämme gibt es eigentlich nur durch Erfahrung”, erklärt er. “Wir haben in der Schweiz seit Jahrzehnten keinen neuen Damm mehr gebaut. Aus diesem Grund ist diese Erfahrung in der Schweiz sehr rat. Aber rein technisch ist die Schwierigkeit, einen Damm zu bauen, überschaubar. ” Viel Spielraum für Eigeninitiative gäbe es nicht.

Die neue Mauer soll langfristig die alte vollständig ersetzen und mit einer Höhe von 113 Metern und einer Kronenlänge von 212 Metern langfristig die Stromproduktion aus dem Grimselsee sicherstellen. ““Das wird zum ersten Mal so gebaut. Es gab Prototypen, Ideen, aber in dieser Form gibt es das eigentlich noch nirgends.”

„Der Grimselsee ist eine Wasserscheide. Alles, was in den Grimselsee kommt, fließt am Ende in die Nordsee.”

Der Grimselsee befindet sich im Quellgebiet der Aare, die von dort aus weiter in den Rhein fließt. Der Rhein wiederum fließt durch ganz Deutschland, um letztendlich in der Nordsee zu münden. Alles, was etwas südlicher an Regen fällt, fließt jedoch ins Mittelmeer.

Hinter der Mauer ist vor der Mauer

Warum aber überhaupt eine neue Mauer bauen? „Der alte Damm ist sanierungsbedürftig”; so Kai Lehner. “Und einen neuen Damm vor den alten zu bauen ist wirtschaftlich gesehen die sinnvollste Lösung.“

Betrachtet man das Bauprojekt, erscheint es überraschend, dass das tatsächlich auch die wirtschaftlich sinnvollste Lösung ist und nicht nur einfach technisch notwendig. Aber es gibt eine Erklärung:

„Um die bestehende Staumauer zu sanieren, müsste man erst den gesamten Stausee über mehrere Saisonen absenken.” Das würde bedeuten, dass das Speicherkraftwerk mehrere Jahre außer Betrieb wäre, mit entsprechenden Folgen für die Schweizer Energiesicherheit. Und das alles, noch bevor mit der eigentlichen Sanierung begonnen werden kann.

“Durch den Neubau kann man die Seeabsenkung auf ein absolutes Minimum reduzieren.” Zunächst wird also die neue Staumauer gebaut, dann der See für kurze Zeit intensiv abgelassen. Das ist notwendig, weil eine Verbindung vom See zur neuen Staumauer entstehen muss, und zwar an so tiefer Stelle wie möglich. Ist dieser Durchschlag einmal geschaffen, kann der See wieder aufgefüllt werden.

“Durch den Neubau ist es möglich, den Großteil der Arbeiten durchzuführen, ohne den Wasserstand verändern zu müssen. Geplant ist, dass eine Absenkung des Sees über insgesamt etwa vier Monate ausreichen sollte. Gerade angesichts der aktuellen Energieproblematik, aber auch in Hinblick auf den Wunsch nach erneuerbaren Energien ist der Neubau also in jeder Hinsicht die beste Lösung für alle Beteiligten.“

Von der Idee bis zur Fertigstellung

Ein Projekt solchen Ausmaßes wird nicht über Nacht auf die Beine gestellt. Die Planung startete 2015, bis zur Projektierung und Bewilligung dauerte es bis 2019. Sechs Jahre lang wird jeweils von Mai bis Oktober gebaut. Da nur die Hälfte des Jahres dafür genutzt werden kann, laufen die Arbeiten in diesen sechs Monaten dann dementsprechend auf Hochtouren an sieben Tagen in der Woche.

2019 begannen die Arbeiten mit dem Felsabtrag an den beiden Flanken, die als Auflager der doppeltgebogenen Staumauer dienen.

Diese Arbeiten wurden 2020 fortgesetzt. Im Anschluss wurde der Fundamentaushub, diversen Ausbrüchen für Liftschächte, Zugangsstollen und Co. erstellt, sowie den Montagen von Kieswerk und Betonanlage.

2021 folgte die Montage der Kräne und dem Betonieren der Staumauer. Diese Betonierungsarbeiten wurden 2022 und 2023 fortgesetzt und sollen auch 2024 weitergeführt sowie mit Fels- und Fugeninjektionen ergänzt werden.

2024 soll der reine Betonbau fertiggestellt sein. Was folgt, ist eine “Hochsaison der Injektionen”. Läuft alles nach Plan, wird bereits Ende 2024 „der See abgesenkt und die verschiedenen Durchschläge in den Grimselsee in einer Intensivphase über die Wintermonate gemacht. Damit der See ab April mit Schmelzwasser wieder gefüllt werden kann.” Was folgt, ist 2025 noch die letzte Phase der Felsinjektionen, Fertigstellungsarbeiten, Deinstallationen und die Endgestaltung.

Veränderungen der letzten hundert Jahre

1925 bis 2025 – zwischen Baubeginn der alten und Fertigstellung der neuen Mauer liegen genau hundert Jahre. In diesen hundert Jahren hat sich viel verändert.

„Man hat viel modernere Berechnungsprogramme, ein viel größeres Know-how – das heißt, die Kraft vom Wasserdruck über die Staumauer in den Fels kann besser abgeleitet werden.” Auch das Wissen und die Herstellung von Beton haben sich verändert, sowohl in der Zusammensetzung als auch in der Verarbeitung. “Dementsprechend kann so ein Bauwerk auch länger halten.”

Auch die Form des Damms ist mittlerweile eine andere. „Die alte Dammmauer ist eine einfach gekrümmte Bogenstaumauer. Das heißt, sie ist einfach horizontal gebogen, für die Ableitung in die Felsflanken. Aber zugleich ist sie auch noch eine Schwergewichtsmauer.” Diese Mauern werden nach unten hin breiter und erzeugen Stabilität durch ihr Gewicht. Die neue Mauer wird eine doppelt gekrümmte Bogenstaumauer – einmal in der Horizontalen gebogen, einmal in der Vertikalen. Das ist ideal für die Kraftableitung der Staumauer in den Fels.

Lokale Betonproduktion

Klingt so weit technisch überschaubar. „Es gibt einige Punkte, die man beachten muss, aber die Schwierigkeit ist eher das Rohmaterial, die Logistik und das Personal. Das ist die größere Herausforderung, als effektiv einen Damm zu bauen.”

Für eine Mauer dieser Größe wird eine Menge Material benötigt. „Die Gesteinskörnung produzieren wir hier vor Ort. Wasser gibt es genug. Der benötigte Zement wird in der Schweiz produziert und angeliefert.” Außerdem braucht es riesige Mengen an Beton: nämlich 215.000 Kubikmeter. Diese werden zu einem Großteil aus dem anfallenden Ausbruchsmaterial aufbereitet, beziehungsweise aus der nahegelegenen Deponie Gerstenegg gewonnen, was Umweltbelastung möglichst gering hält. „Wir haben direkt vor der Stammmauer eine eigene Betonanlage, mischen so den Beton zusammen und lassen ihn dann von unseren zwei Kränen in 6,5-Kubik-Kübeln hochheben. Das ist eine eindrückliche Zahl.“

120 Personen arbeiten im Saisonbetrieb auf der Baustelle. Für sie alle trägt Kai Lehner die Verantwortung. „Ich bin erst 29 Jahre alt. Da muss man sich überlegen, ob man das Tragen möchte und auch tragen kann. Die Entscheidung, das zu tun, war trotzdem in fünf Minuten getroffen. Es war genügend Zeit, um zu überlegen, aber gewusst habe ich es sofort.”

Die eigentlichen Herausforderungen

Einfach ist es dennoch nicht. Die größte Herausforderung für Kai Lehner und sein Team lassen sich in drei Punkten zusammenfassen, zählt er auf.

„Der erste Punkt ist sicher das Wetter oder die Witterung. Man ist auf 2.000 Metern Höhe, da ist es jeden Tag anders. Heute morgen hatten wir Schnee – letzte Woche konnte ich im T-Shirt herumlaufen.” Sehr starker Wind sowie dichter Nebel machen den Arbeitenden das Leben schwer. „Und das Wetter ändert sich täglich, wenn nicht sogar stündlich. Der geografische Standort der Baustelle ist wirklich nicht einfach.”

Der zweite Punkt ist die Logistik. „Man baut weit ab vom Schuss”, bringt Kai Lehner ein einfaches Beispiel: „Stell dir vor, es fehlt eine Leiter. Da kann man nicht einfach schnell zurück ins Werk, eine holen. Dementsprechend ist es auch nicht einfach, die ganzen Transporte zu organisieren und zu koordinieren. Zusätzlich haben wir wenig Platz, weil man einen Staudamm ja da baut, wo das Tal sehr eng ist.”

An dritter Stelle steht das Personal. „Man ist die ganze Woche lang weg. Man muss hier oben schlafen, wenn man nicht zufällig direkt aus der Region kommt.” 120 Personen. Zwei Camps. 72 Zimmer. Unterbringung und Bewirtschaftung gleichen einem Hotel, so Kai Lehner. Hinzu kommt, wie so oft, die Suche nach dem geeigneten Personal. „Wir brauchen gutes Personal, weil das Projekt eine sehr hohe Qualität fordert.”

Den Widrigkeiten und Schwierigkeiten zum Trotz laufe das Projekt sehr gut, freut sich der Bauleiter. „Die letzte Saison war höchst erfolgreich. Viele Learnings der vergangenen Saisonen konnten umgesetzt werden. Nächste Saison braucht es wirklich nur noch kleine Stellschrauben, die justiert werden müssen, aber keine großen Anpassungen.”

Ganz oben angekommen

Das Gefühl, ganz oben auf der Staumauer zu stehen und hinunterzublicken, sei ein schönes, und „auch ein Gefühl von Stolz. Das Tolle ist, dass man dieses Gefühl nicht nur auf sich hat, sondern auf die ganze Gruppe.” Eine hierarchische Baustelle würde hier oben nicht funktionieren, meint Kai Lehner. „Klar, es braucht Vorgesetzte, und die müssen Entscheidungen treffen. Aber ich vergleiche es immer mit einem Zahnrad, und bei einem Zahnrad muss jeder Zacken gleich lang sein. Auf der Baustelle schafft man das nur als Team oder sogar als Familie. Und der Stolz auf dieses Team überwiegt den individuellen Stolz.”

Der schönste Moment war für ihn deshalb auch das Gruppenfoto in der Mitte der Staumauer. „Da hat man einmal die Anzahl der Leute gesehen! Wir sind hier überall verteilt. Wir arbeiten sieben Tage die Woche in Schichten, es gibt halt einfach kleine Gruppen. Aber in dem Moment hat man zum ersten Mal gesehen, wie große eine Baustelle mit 120 Leuten ist. Das war schon eindrücklich, würde ich sagen.”

Ob es nicht ein mulmiges Gefühl ist, wenn man unten steht und hinaufschaut, an die Wassermassen denkt, die gegen den Beton drücken? Kai Lehner wiegelt ab, so schlimm sei es nicht. „Aber man merkt schnell, wie klein man ist. Und was hundert kleine Menschen alles bewirken können.”

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Über Kai Lehner

Aufgewachsen in den Schweizer Bergen ist es kein Wunder, dass es Kai Lehner an den Grimselsee gezogen hat. Dabei wollte der gebürtige Löschentaler eigentlich Helikopterpilot werden (Für diejenigen, die in der Schweizer Geografie nicht bewandert sind: Das Löschental befindet sich im Oberwallis. Wem das noch immer nichts sagt: Wallis ist ein Kanton im Südwesten der Schweiz.). Seine Leidenschaft für Staudämme entdeckte er bereits in frühester Kindheit, als er mit Begeisterung Bachläufe blockierte.